Ich musste ein paar Tage Zeit zum Luftholen nehmen – Ein ganz persönlicher Beitrag

Im Euro-Sommer 2008 traf ich mich zum ersten Mal seit fast 20 Jahren mit meinem Bruder. Es lag stets nichts außer der räumlichen Distanz zwischen uns, auch wenn ich jetzt auf tragische Weise erfuhr, dass das nicht von allen so gesehen wurde. So wie ich meinen 1.3/4 Jahre älteren Bruder immer sah, war alles was wir je für einander taten oder entgegennahmen, selbstverständlich. Da brauchte gegenseitig nicht sonderlich „Danke“ gesagt, oder ein Antrag auf ‚Gehör’ gestellt werden. Trotz von anderen wohl so empfundener zeitweiliger Funkstille (obwohl wir doch stets per Telefon miteinander verbunden waren, wenn auch nicht ’täglich’), war ich meinem Bruder niemals gram! Ich konnte (und wollte) also am Rande seiner Beerdigung vor wenigen Tagen nicht wirklich nachvollziehen, was die anderen dachten und mir Schulter klopfend meinten sagen zu müssen!
In diesem Sommer holte er mich vom Bahnhof Thionville ab, um über die Grenze dann nach Deutschland an die Saar in ein schönes Hotel zu fahren, wo er mit seiner Frau, also meiner Schwägerin und unserer Mutter ein paar Tage auf einer kleinen Deutschland-Tour verweilten. Wir fuhren nicht zu schnell in seinem offenen Mercedes und passierten innerorts auf einer Brücke eine Gruppe junger Menschen, die auch die schöne Landschaft genossen. „Guck mal, da fährt der Nikolaus!“ rief ein sicher etwas vorlautes Mädchen und die ganze Horde johlte und winkte. Ich winkte zurück. Ich war gemeint, weil mein langer, weißgrauer Bart und die noch viel längeren, weißgrauen Haare mich als den Nikolaus im Sommer verrieten…
Einen Tag später, in den letzten Minuten dieses Kurztrips, der einen besonderen Hintergrund hatte, verursacht durch unsere große Hundeschar, die wir niemandem, noch nicht einmal meinem Bruder oder der ganzen Familie zumuten wollten, saßen wir auf der Bahnhofsterrasse wieder in Thionville und warteten auf meinen Zug, der mich umständlich zurück in die Champagne bringen sollte. Da kam der Wirt der Gaststätte nochmals hinaus und bat mich um ein Autogramm von ‚ZZ-Top’… Was ich natürlich unter Hinzufügung des Namens des Autogrammsammlers gerne erfüllte… ‚Pour Bernard par ZZ-Top, Thionville, 20.06.08’… Wir scherzten noch etliche Male danach über Skype und per Kamera über diese lustigen Begebenheiten, die man mit mir immer einkalkulieren muss.
Mein Bruder war ein Banker im Berufsleben und natürlich gehen fast 40 Jahre in einer solchen Tätigkeit nicht ganz spurlos an einem vorbei. Das sage ich jetzt völlig wertfrei. Jemand wie ich, der dagegen die gleiche Zeitspanne ausschließlich als freier Einzelkämpfer verbrachte, ist bei allen Ähnlichkeiten im Charakter, ein, oberflächlich betrachtet, ganz anderer geworden. Ich hatte den Vorteil in unserer Jugend, dass mein ja stets etwas älterer Bruder viele Dinge schon ausprobierte, die ich dann entweder gar nicht mehr versuchen musste oder sie nach ihm leichter meistern konnte. Auch darum bin ich zu dem geworden, der ich heute bin!
Ich hätte ihm gegönnt, vielleicht noch 20 Jahre das Leben zu genießen, dass er sich mit seiner Frau so schön aufgebaut und ausgemalt hatte. Ich wollte nicht erneut Recht behalten, als ich ihn wieder und immer wieder auf seine ungesunde Lebensweise ansprach! Vor allem wollte ich nicht so schnell Recht bekommen. Ich wusste ja, dass ich Recht hatte, und er wusste es auch: „Aber wenn es denn so weit ist, dann soll es so sein, dann habe ich wenigstens bis hierhin gelebt!“ Das sagt man so leicht in Tagen, wo es allen um einen herum richtig gut geht. Die Tränen bleiben bei den Zurückgelassenen.
Schade! Dieser Nikolaus-, dieser ZZ-Top-Verschnitt, dieses John Lennon- oder Bin Laden-Ebenbild und von mir aus Jesus-Ersatz, was weiß ich alles, ich hätte sehr gerne noch viele Male mit Dir, mein lieber Bruder, so gelacht wie im Sommer 2008!  

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